Sila Lodge - wie sie bis 2002 war

Vorbemerkung: Der folgende Text stammt aus der Zeit, als die Sila Lodge noch in Betrieb war; Probleme mit dem Chartern von Flugzeugen zwangen die Besitzer im Jahr 2002 zur Stilllegung.

 

Die beiden hauptsächlichen Aktivitäten für die Gäste der Sila Lodge sind Wanderungen in die arktische Naturlandschaft und Bootsfahrten, um die Meeresfauna und weiter entfernte Gegenden kennenzulernen. Da die Tiere in der Region nicht gejagt werden, zeigen sie nur wenig Scheu und lassen sich auf eine Weise beobachten, die in anderen Gegenden undenkbar ist. Nicht gejagt wird aus zwei Gründen: Zum einen ist für Inuit das Jagen zwar grundsätzlich erlaubt, doch legen die Lodge-Inhaber großen Wert darauf, daß sich die Tiere hier wohl fühlen und Naturliebhaber sie möglichst aus der Nähe beobachten können. Zum anderen ist die Gefahr sehr gering, daß sich unerwünschte Jäger hierher verirren. Die nächsten Siedlungen sind so weit entfernt, daß die Jagdbeute nur mit unverhältnismäßigen Mühen dorthin transportiert werden kann. Von der Sila Lodge benötigt man z. B. für die Fahrt nach Repulse Bay mit einem schnellen Motorboot mindestens sieben Stunden, „weather permitting – sofern es das Wetter erlaubt.“

"Sila Lodge" [vgl. Der Polarbär kam spät abends S. 20]

"Sila Lodge" [vgl. Der Polarbär kam spät abends S. 20]

Von den Tieren im näheren Umkreis der Lodge hatten wir bereits beim ersten Abendessen Barren-Ground-Karibus (gelegentlich auch als Barrenland-Karibus bezeichnet) beobachten können, und arktische Erdhörnchen, Siksiks, hatten uns gleich bei der Ankunft begrüßt.

Karibus sind die einzigen Mitglieder der Rotwildfamilie, bei denen Männchen und Weibchen Geweihe tragen. Sie tauchen nahe der Lodge auf und ziehen, äsend und neugierige Blicke um sich werfend, vorüber – den Esker hinter den Gebäuden hinauf oder hinunter über den nahen Fluß. Zuweilen hat man den Eindruck, sie kämen aus dem Nichts und verschwänden auch wieder dorthin.

Die Siksiks bilden an der Lodge ganze Kolonien und verhalten sich fast wie Haustiere. Sie haben sich Bauten in den Abhang des Eskers gegraben und halten sich mit Vorliebe unter den auf niedrigen Stelzen erbauten Blockhäusern auf, verlaufen sich gelegentlich gar in den Speiseraum, von wo sie allerdings mit viel Geschrei vertrieben werden. Sie sind die einzigen ganzjährig in der Tundra lebenden Säugetiere, die einen echten, über acht Monate langen Winterschlaf halten. In der kurzen Sommerzeit tragen sie emsig Material für ihre Nester zusammen und sorgen für ihre Nachkommenschaft. Den Rest der Zeit verbringen sie mit Futtersuche, Fressen, Spielen und Ausruhen. Lockt man sie mit Leckerbissen, dann sind sie durchaus bereit, sich für unsere Fotos in Pose zu setzen.

Gut getarnt sitzen zwischen den Felsblöcken immer wieder Eishasen im dunklen Sommerkleid und lassen sich vom Wind den Pelz zerzausen, jagen dann plötzlich davon und bringen sich hinter den nächsten Felsen in Sicherheit vor neugierigen Blicken.

Zuweilen umschleichen Polarfüchse und hin und wieder ein Vielfraß oder ein hungriger Wolf die Blockhütten. Doch um sie zu sehen, bedarf es einer besonderen Portion Glück. Von den Wölfen heißt es gar: „You don’t see them, but be sure they see you – du siehst sie nicht, aber sei sicher, sie sehen dich!“

Polarbären kommen üblicherweise erst im Herbst zur Lodge, wenn der Hunger ihren ohnehin schon ausgezeichneten Geruchssinn schärft und sie auf Nahrungssuche sind. Wie John Hickes uns erzählt, hatte ein hungriger Bär eines Winters das zu der Zeit unbenutzte, an der Außenseite gut mit Holz verbarrikadierte Hauptgebäude aufgebrochen und war ins Innere eingedrungen. Zu fressen hatte er gewiß nichts gefunden, doch irritierte ihn wohl sein Spiegelbild in den von außen vernagelten Fensterscheiben: Kurzum, er zerschlug mit seinen Pranken die Fenster von innen und hinterließ ein unbeschreibliches Durcheinander. Seitdem werden alle Fenster vor dem Verlassen der Lodge nicht nur außen, sondern auch innen verschalt.

An der Wager Bay sind zwei Robbenarten heimisch, wichtigste Nahrungsquelle für die Polarbären: die zweieinhalb Meter lange und bis 250 Kilogramm schwere Bartrobbe mit langen flachen Borstenbüscheln an der Schnauze, die ihr den Namen geben, und die in der ganzen Arktis heimische Ringelrobbe. Sie wird bis eineinhalb Meter lang und hat ein durchschnittliches Gewicht von 60, 70 Kilogramm.

Vielerlei Vogelarten kommen an der Wager Bay zwar nicht vor; dennoch kann das Herz jedes Vogelliebhabers sich an den hier durchziehenden oder nistenden Vögeln erfreuen. Ein Beispiel: Wanderfalken, auch Peregrinfalken genannt, zählen zwar zu den auf der Erde am weitesten verbreiteten Vogelarten, doch gehören sie wegen ihrer geringen Zahl zu den gefährdeten Raubvögeln. In den Felswänden der Wager-Bay-Region besitzen sie mehr Nistplätze als in irgendeinem anderen Gebiet der nordamerikanischen Arktis, viele davon in verhältnismäßig geringer Entfernung von der Sila Lodge. Auch nisten hier Gerfalken und Rauhfußbussarde, allerdings weniger häufig als die Wanderfalken.

Auffällig ist, daß Möwen sowohl an Zahl als auch nach Arten verhältnismäßig selten vorkommen. Dafür zeigen sich dem Beobachter Eiderenten und Sterntaucher ziemlich häufig, von den auf vielen Inseln nistenden Schwarzlummen (oder Gryllteisten) ganz zu schweigen. In den Tinittuktuq Flats nisten Kanadakraniche, und zu mancher Abendstunde hört man beim Einschlafen ihren Ruf.

In unmittelbarer Umgebung der Lodge halten sich mehrere Singvogelarten auf. Zuweilen schauen Spornammern zur Frühstückszeit durchs Fenster, und Regenpfeifer begegnen einem auf Schritt und Tritt.

Zum Botanisieren bieten sich viele Gelegenheiten: Mehr als achtzig Pflanzenarten sind an der Wager Bay heimisch, darunter viele, die auch in den europäischen Hochalpen zu finden sind.

Für die Gäste, Qallunaat, Nicht-Inuit aus allen Teilen der Erde, hat der Aufenthalt in der Lodge noch einen weiteren unschätzbaren Vorteil zu bieten: Wenn sie dazu bereit und aufgeschlossen genug sind, lernen sie ihre Inuit-Gastgeber und deren familiäres Umfeld viel näher kennen und können sich mit ihnen viel eingehender über das Leben in der Arktis unterhalten, als das unter den üblichen Touristenbedingungen in „abgeschirmter Hotelatmosphäre“ möglich wäre. Gewiß, es mag die eine oder andere Sprachbarriere geben, denn nicht alle anwesenden Inuit können uneingeschränkt englisch sprechen. Doch das gehört nun mal zu den Herausforderungen einer Reise in den hohen Norden Kanadas.

Quelle: „Der Polarbär kam spät abends“ S. 169 – 172

  Letzte Aktualisierung: 01. Mai 2009 |