Mumifizierter Wald auf Axel Heiberg Island (79° 55' N / 88° 58' W)

Vorbemerkung: Über einen weiten Hang verteilt befinden sich in der Nähe der Geodetic Hills auf Axel Heiberg Island die Reste eines mumifizierten Waldes, darunter einzelne mumifizierte, etwa 50 Zentimeter hohe und einen Meter dicke Baumstümpfe der Mammutbaumart Metasequoia glyptostroboides, die hier einmal die Höhe von etwa 50 Metern und ein Alter von 1 000 Jahren erreichte

"Mumifizierter Wald | mummified forest" [vgl. Nordflug S. 78]

"Mumifizierter Wald | mummified forest" [vgl. Nordflug S. 78]

Die ersten Hinweise, daß in grauer Vorzeit Wälder in der kanadischen hohen Arktis wuchsen, lieferte David Brainard. Er war Sergeant der U.S. Army und Mitglied einer von Lieutenant Adolphus Greely geleiteten 25köpfigen Expedition, die 1883 bis zur Nordspitze Grönlands vorgestoßen war und dabei auch Ellesmere Island erforschte. Über die Expedition selbst ist zu berichten, daß sie tragisch endete, nachdem zwei Versorgungsschiffe die Gruppe verfehlt hatten; nur Greely, Brainard und vier weitere Teilnehmer an der Expedition überlebten den arktischen Winter. Brainard brachte naturgeschichtlich interessante Proben mit zurück, darunter auch Stücke versteinerten Holzes aus einem vorgeschichtlichen fossilen Wald.

Inzwischen sind weitere Spuren fossiler Wälder im Norden Kanadas und auch auf Spitzbergen gefunden worden. Gewöhnlich handelt es sich bei den entdeckten Fossilien um die petrifizierten Reste von tropischen Bäumen. Die Versteinerungen waren dadurch entstanden, daß Mineralsalzlösungen die Zellstrukturen der während langer Zeiträume vom Erdreich bedeckten Baumreste durchtränkt und ausgefüllt hatten. Auf Ellesmere Island wurde beispielsweise in einer frei zugänglichen Kohleschicht ein fossiler Wald mit über hundert Baumstümpfen entdeckt, dessen Holz sich durch Einlagerungen in Kalzit umgewandelt hatte.

Im Jahr 1985 fielen dem Hubschrauberpiloten Paul Tudge beim Überfliegen eines Bergrückens in der östlichen Region von Axel Heiberg Island eine Reihe von fossilen Baumstümpfen auf, und etwa zur gleichen Zeit berichtete auch der Geologe Brian David Ricketts von diesen Fossilien, die sich bald als etwas ganz anderes als die bisherigen Funde erwiesen: Diese Baumreste waren nicht versteinert, sondern mumifiziert - und daher brennbar. Das Holz war zwar dem Druck von Sedimenten ausgesetzt gewesen, doch hatte das die gewachsenen Strukturen nur wenig verändert.

Im Wesentlichen bestand der mumifizierte Wald aus Wasserfichten (Glyptostrobus) und Mammutbäumen (speziell der Art Metasequoia glyptostroboides, engl. dawn redwood), die dort eine Höhe von etwa 50 Metern und ein Alter von 1 000 Jahren erreichten, wie sich durch Auszählen der Jahresringe erwies. Doch wurden auch Blätter bzw. Nadeln von Hickorybäumen, Sumpfzypressen, Zedern, Pinien, Fichten und Lärchen identifiziert - um hier nur die wichtigsten Arten zu nennen. Selbst Zapfen verschiedener Nadelgehölze wurden gefunden.

Unter welchen Verhältnissen konnten derart gewaltige Wälder 2 000 Kilometer nördlich der gegenwärtigen Baumgrenze und keine 1 000 Kilometer vom Nordpol entfernt wachsen? Schließlich entwickeln sich arktische Weiden und Zwergbirken, die heutigen „Bäume“ der Arktis, unter dem Einfluß von Wind und Wetter in Jahrzehnten nur noch zu am Boden kriechenden Gewächsen mit kaum daumendicken „Baumstämmen“.

Lange schon ist bekannt, daß es während des Tertiärs in den nördlichen Regionen eine artenreiche Flora mit gemäßigten Wärmeansprüchen gab, die sich im Zuge der fortschreitenden Abkühlung der Erde nach Süden verlagert hat. Sie wurde zur Basis für die heutige europäische Flora, vor allem auch des alpinen Bereichs. Funde in fossilen Wäldern der Nordpolarländer haben überdies bewiesen, daß im Tertiär zwischen den einzelnen Erdteilen ein reger Pflanzenaustausch stattfand. Systematische Studien gaben auch Hinweise darauf, daß in der Frühzeit der Erde die ostasiatischen Gebirgsländer eng mit den Nordpolarländern zusammenhingen und daß die im Tertiär aufgefalteten Hochgebirge eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung von Pflanzenregionen gespielt haben. Ein Beleg sind etwa die in Nordkanada, auf Grönland und Spitzbergen an Stellen mit -20° C mittlerer Jahrestemperatur entdeckten fossilen Floren, die dem heutigen Pflanzenwachstum in warmen Regionen Ostasiens oder des südlichen Nordamerika gleichen. Dazu zählt auch das Vorkommen lebender Mammutbäume und insbesondere von Metasequoia glyptostroboides, die 1944 auf einem schmalen Gebiet im Südwesten Chinas aufgefunden wurde. Mammutbäume waren auch in Mitteleuropa verbreitet und an der Bildung von Braunkohle beteiligt.

Der gute Erhaltungszustand der Mammutbaumreste nahe den Geodetic Hills ist zweifellos einem besonderen Umstand zu verdanken. Offenbar wurden die Bäume ungewöhnlich rasch mit Sediment überhäuft und vom Kontakt mit Luftsauerstoff abgeschnitten. Wie dies jedoch geschehen konnte, hat eine breite wissenschaftliche Diskussion ausgelöst.

Man nimmt heute an, daß die Wälder zu der Zeit, als sich die Bergkette der heutigen Princess Margaret Range auffaltete, sehr dicht waren. Sie wuchsen vermutlich in sumpfigen, von Flüssen durchzogenen Tälern oder Ebenen. Diese Flüsse führten viel Sediment mit sich - Sand und Schlick, die sich in dicken Schichten ablagerten. Im Herbst wurden sie von fallenden Blättern und Nadeln bedeckt. Darüber schichteten sich wieder feinste Sedimente von Sand und Schlick, und umstürzende Bäume trugen weiteres Material zum Aufbau einer mächtigen Sumpfschicht bei. Einmal, vielleicht auch mehrmals, dürfte es zu starken Überflutungen der Wälder gekommen sein, die ganze Waldgebiete sehr rasch unter Wasser setzten. Obenauf blieb eine Decke aus Sand, dichtem feinstem Sediment und Kiesel. Der Luftsauerstoff war auf diese Weise in kürzester Zeit so verdrängt worden, daß kein Vermodern möglich war. Während aber bei anderen tertiären Wäldern Mineralsalzlösungen die Bäume durchtränkten und die Holzstruktur durch Versteinerungen ersetzten, blieb solchen Salzlösungen bei den Wäldern nahe den Geodetic Hills - und das ist das Außergewöhnliche - der Zutritt durch das feinpulvrige sandige Sediment verwehrt, und es kam nicht zur Versteinerung, sondern zur Mumifizierung.

In den folgenden Jahrmillionen blieben die verschütteten Wälder infolge der Auffaltung der Prince Margaret Range davor verschont, daß sich weitere dicke Sedimentschichten auflagerten. So kam es auch nicht zum Verkohlen der Holzsubstanz, ein Vorgang, der allgemein durch hohen Druck zusammen mit Hitze verursacht wird. Vielmehr legte sich in den Eiszeiten ein schützender Eispanzer über das infolge der Gebirgsbildung nahe der Oberfläche gelagerte organische Material. In neuerer Zeit förderten Erosionen die Waldreste wieder zutage.

Die vorzeitlichen Wälder bei den Geodetic Hills sind eindeutig als „polar“ zu bezeichnen, weil die Bäume sich den Lichtverhältnissen des Nordens genau angepaßt hatten. Das ließ sich anhand der Jahresringe nachweisen: Sie bestehen aus einem breiten hellen Teil, den eine recht schmale dunkle Linie umschließt. Wie kam es dazu? Die Erdachse ist bei ihrer Flugbahn um die Sonne 23° geneigt, und die Sonne bleibt daher bei einer nördlichen Breite von rund 80° ununterbrochen knapp fünf Monate im Jahr - von Mitte April bis Ende August - über dem Horizont. Nach einer kurzen Zwielichtperiode folgen fünf Monate winterlicher Dunkelheit. Wie der Aufbau der Jahresringe nun zeigt, wuchsen die Bäume im Dauerlicht der Sommermonate sehr rasch und ausgiebig, und sie stellten ihr Wachstum in den lichtlosen Wintermonaten abrupt ein.

Die Bäume in der Nähe der Geodetic Hills hatten sich aber auch sonst den polaren Verhältnissen sehr gut angepaßt: So waren die Hickory- und Mammutbäume, die Wasserfichten, Sumpfzypressen und Lärchen durch das Abwerfen ihres Laubs bzw. ihrer Nadeln imstande, ihren Stoffwechsel in den langen Dunkelphasen der Wintermonate zu senken und Energieverluste zu vermeiden.

Quelle: „Nordflug“ S. 80 – 82

  Letzte Aktualisierung: 08. Januar 2010 |