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Der gewaltsame Tod von Kenojuaks Vater

Vorbemerkung: Kenojuaks Vater Usuaqjuk war bei den Inuit auf Pujjunnaq (Mansel Island) offenbar gefürchtet und trotz seiner großzügigen Wesensart nur wenig beliebt. Das mag darauf zurückzuführen sein, daß Usuaqjuks Vater Alariaq in früheren Jahren ein bedeutender Angakkuq (Schamane) gewesen war, der über viel mehr Wissen als die gewöhnlichen Sterblichen verfügte, und daß man deshalb auch seinem Sohn außergewöhnliche Kräfte zutraute.

"Kenojuak" [vgl. Kenojuak S. 33]

"Kenojuak" [vgl. Kenojuak S. 33]

Der Winter 1930/31 war in jeder Hinsicht tief bedrückend. Im Camp auf Pujjunnaq wurde viel über den Tauschwert von Fellen diskutiert, der immer mehr verfiel. Der Boden für Spannungen im täglichen Zusammenleben war bereitet.

Kenojuak ist nicht sicher, ob ihr Vater gelegentlich Drohungen gegenüber anderen Jägern ausgestoßen hatte. Möglich scheint es, denn er war, wie sie sich erinnert, ein heftiger und nicht selten sehr impulsiver, vielleicht auch jähzorniger Mensch. Wie es den Anschein hat, fanden jedenfalls einige der Männer im Camp, Usuaqjuks Anwesenheit schüre Unfrieden. Und so nahm ein Drama seinen Lauf.

Über Kenojuaks Mutter Silaqqi müssen jedenfalls furchtbare Tage hereingebrochen sein. Kenojuak erzählt uns darüber aus der Erinnerung eines Kindes, das die tieferen Zusammenhänge noch nicht durchschauen konnte, und wohl auch aus Erzählungen, die sie später darüber hörte: »Meine Mutter wurde von tiefer Angst bedrückt; zeitweilig schien es ihr, Usuaqjuk handle wie von Sinnen.«

In Cape Dorset hörten wir allerdings Berichte, welche die heraufziehende Katastrophe und Usuaqjuks Schicksal in ganz anderem Lichte erscheinen lassen: Vor Jahren soll Alariaq als Camp-Leader nach traditionellem Inuit-Recht einen Mann zum Tode verurteilt haben, der seine Familie schwer mißhandelt hatte und daher im Camp nicht mehr tragbar war. Für die Vollstreckung dieses Urteils hatte er seinen Sohn Usuaqjuk ausersehen, dem nun die Tötung eines Menschen anhing.

Uns mögen solche Geschehnisse unbegreiflich, auf alle Fälle aber inhuman erscheinen. Bei der Beurteilung gilt es jedoch zu bedenken, daß das Rechtsempfinden der Inuit seinerzeit ganz auf den Erhalt von Harmonie und Stabilität ausgerichtet sein mußte. Nur so war das Überleben der Gruppe zu sichern. Wer zu streitsüchtig wurde, die Selbstbeherrschung verlor, das Familienleben nachhaltig störte oder sich am Eigentum anderer Mitglieder der Gruppe vergriff, der wurde zur Bedrohung der gesamten Gemeinschaft. In solchem Falle sah sich der Führer des Camps gezwungen, die Ordnung wiederherzustellen. Zuweilen nahmen sich auch Bewohner des Camps aus eigenem Antrieb oder von der Gruppe bestimmt der »Lösung des Problems« an. Doch leider blieb es dann meist nicht beim Hinrichten eines Einzelnen, und häufig folgten weitere Tötungen aus Familienrache.

Jedenfalls war die Vorgeschichte Usuaqjuks auch auf Pujjunnaq bekannt geworden, und sie verlieh ihm den Rang des Außergewöhnlichen. Da er zudem über eine vom Vater ererbte charismatische Ausstrahlung verfügte und ein guter Jäger war, fühlten sich ihm nicht wenige Männer im Camp in vieler Hinsicht unterlegen. So machte sich wohl zunehmend Neid gegenüber dem aus der Baffin-Region hierher gekommenen Fremden breit.

Was auch immer zu der Tragödie geführt haben mag: Ein grauenvoller Wintertag hat sich tief und unauslöschlich in Kenojuaks Gedächtnis eingeprägt. Am Morgen bereitete sich Usuaqjuk zum Aufbruch auf die Jagd vor und hatte dabei unversehens eine lautstarke Auseinandersetzung mit einem anderen Mann. Danach kam er in sein Iglu zurück und warf sich auf die Schlafstatt, auf der die Kinder sich noch in wärmende Felle schmiegten. Er muß zu dieser Stunde schon geahnt haben, was ihm drohte, und vermutlich begann er sich bereits in sein unabwendbares Schicksal zu fügen. Denn er benahm sich ganz anders als sonst: Er schlug wild mit den Fäusten um sich und warf sich von einer Seite zur anderen. Ab und an weinte er heftig, dann redete er wieder freundlich und scheinbar ruhig mit seinen Kindern. Silaqqi und Qalingo, ein Freund, versuchten, ihn zu besänftigen – vergebens.

Abrupt verließ er das Iglu. Mehrere Schüsse fielen. Silaqqi stürzte hinaus, die Kinder folgten. Die kleine Kenojuak sah ihren Vater in einer Blutlache liegen, die langsam in den Schnee sickerte; er rührte sich nicht mehr. Da wurde ihr bewußt, daß sein Leben zu Ende war.

Drei Männer hatten draußen darauf gewartet, Usuaqjuk zu ermorden. Nach der Tat begannen sie, an seinen Hals, seine Handgelenke und seine Fußknöchel Felsbrocken zu binden. Schließlich stürzten sie den so beschwerten Körper ins Meer. Alles, was er besaß, warfen sie hinterher. Sie erschossen sogar ein paar seiner Hunde; die übrigen entkamen und wagten sich nie mehr in die Nähe des Camps.

Kenojuak äußert sich uns gegenüber: »Offensichtlich hat sich mein Vater nicht an die Verhaltensregeln unseres Camps gehalten. So wurde sein Tod beschlossen.« Sollte allerdings, wie uns andere Inuit darlegten, purer Neid die Triebfeder für den Mord gewesen sein, dann dürfte sich Kenojuaks Mutter in einer entsetzlichen Zwangslage befunden haben: Um ihre Familie vor weiterem Unheil zu bewahren, durfte sie nicht zu ihrem getöteten Mann halten, sondern mußte ihren Kindern die wahren Hintergründe verschweigen.

Quelle: „Kenojuak“ S. 27 – 29

  Letzte Aktualisierung: 01. Mai 2009 |